Kannibalismus unter Homo sapiens finden wir in unserer zivilisierten Gesellschaft nicht. Lebensmittel sind in der Regel ausreichend vorhanden und bei knappen Ressourcen reden wir hauptsächlich von der Zeit und Aufmerksamkeit der Eltern. Dennoch können die endlosen Streitereien zwischen Geschwisterkindern – selbst bei harmlosem Ausgang – zermürbend sein und man fragt sich, warum sich stets ein Kind benachteiligt fühlt? „Max hat das Stück vom Schokocroissant mit mehr Füllung“ oder „Warum darf Sophie wieder das Gutenacht-Buch auswählen?“ Man gewöhnt sich daran, schmunzelt hin und wieder ob der Belanglosigkeit des Streitthemas und kann vielleicht kleine Triumphe feiern, wenn Hilfsstrategien aufgehen wie: „Sophie, das nächste Croissant teilt Max und du suchst dir die Hälfte aus“ oder „Sophie sucht drei Bücher aus, Max, du entscheidest, welches davon heute gelesen wird. Morgen andersherum.“ Aber anstrengend ist diese ständige Streiterei allemal. Kinder profitieren von Geschwistern, auch wenn es im Streitmodus nicht immer danach aussieht. Das Aufwachsen mit vielen Geschwistern fördert ein kooperatives Verhalten laut einer kanadischen Studie aus diesem Jahr. Zudem können Kinder erste Beziehungsstrategien erleben, verschiedene Rollen ausprobieren und haben im besten Fall Verbündete fürs Leben. Und was die Streitigkeiten angeht, es gibt einen Lichtblick. Mehrheitlich wird in der Geschwisterforschung die Meinung vertreten, dass – längsschnittlich betrachtet – Rivalitätskonflikte zwischen Geschwistern mit zunehmendem Alter abnehmen.
Die Phasen der Geschwisterbeziehung
Generell kann festgehalten werden, dass es während der gesamten Kindheitsjahre ganz entscheidend von den Eltern abhängt, ob sich zwischen den Geschwistern eine positive, von Rivalität weitgehend ungetrübte Beziehung aufbaut und aufrechterhält. Im Laufe des Lebens verändert sich die Beziehung zu den Geschwistern. Wie Eltern die Kinder dabei im positiven Sinne begleiten können, wird anhand der folgenden Phasen skizziert, die die Geschwister durchlaufen.
Anfangszeit
Bevor das Baby kommt, kann das Geschwisterkind schon positiv auf den Neuzuwachs vorbereitet werden. Je nach Alter des erstgeborenen Kindes können Bücher zum Thema Geschwister vorgelesen werden und die Vorfreude auf den Familienzuwachs geschürt werden. An erster Stelle aber sollen die Eltern dem Kind die Sicherheit vermitteln, dass das neue Kind nicht ersetzt, sondern eine Familienergänzung ist. Ist das Baby da, darf das erstgeborene Kind nicht die Erfahrung machen, dass es jetzt nicht mehr in den Arm der Mama kann, weil das Baby da ist. Gerade beim allerersten Kennenlernen der Geschwister sollen die Hände frei sein für das Kind, das schon da ist. In dieser einmalig intensiven Anfangsphase erleichtern viele Hände den guten Übergang in die neue Familienkonstellation. Also so viel Unterstützung wie möglich organisieren, sei es Familie, Freunde oder Hausangestellte. In der Anfangszeit profitiert das Erstgeborene von regelmäßigen Qualitätszeiten mit einem Elternteil ohne das Baby.
Frühe Kindheit
Während der Kindheit sind Geschwister eine Handlungs- und Erprobungsgemeinschaft. Die Geschwister sind sehr nah und verbringen viel Zeit miteinander. Geschwister sind oft die erste Bezugsperson, Freund:in, Spielkamerad:in und am wichtigsten: Verbündete gegen die Eltern. Aber Geschwister sind nicht nur Spielkameraden, sondern auch ewige Nervensägen, Konkurrent:innen und Kritiker:innen. Je näher sie beieinander sind, desto mehr Reibungsflächen entstehen. Zudem hat jedes Kind von Geburt an sein eigenes Temperament und das beeinflusst maßgeblich, ob sich die Geschwister anfreunden oder eher zanken. In der frühen Kindheit ist es zunächst Aufgabe der Eltern, einer Beziehung zwischen den Geschwistern den Weg zu ebnen. In den ersten Phasen sollten die Eltern den Ansprüchen beider Kinder gerecht werden und somit die Beziehung zwischen den Geschwistern regeln. Das bedeutet auch aktiv in das Konfliktmanagement gehen: Früh Regeln sichtbar machen, einfache Lösungswege aufzeigen, wie das Teilen und Abwechseln. Lob verteilen bei kooperativem Verhalten und keine Schuldzuweisungen bei Konflikten. Zudem sollten Kinder die Möglichkeit haben, individuelle Rückzugsmöglichkeiten aufzusuchen.