Gute Bildung ist kein reiner Wettbewerb um Bestleistungen, sondern als Kinder- und Menschenrecht zu verstehen, denn das Lernbedürfnis ist angeboren. Das Bildungssystem sollte den Rahmen bilden, in dem alle Kinder in ihrem Tempo wachsen dürfen, in dem Unterstützung kein Luxus ist und in dem die Startlinie nicht über die Zukunft entscheidet. Damit ist nicht gemeint, dass alle gleich sein sollen, sondern dass allen die gleichen Möglichkeiten und Chancen zur Verfügung stehen sollten. Der Vorsprung, mit dem Kinder bildungsnahen – oft gleichbedeutend mit finanzstarken – Haushalten aufwachsen, ist für sie selbst unsichtbar. Sie erhalten Förderung und Forderung, die Eltern sind im regelmäßigen Austausch mit den Lehrkräften. Aber nicht nur das, sie kennen die sozialen Spielregeln und werden sowohl finanziell als auch motivationspsychologisch unterstützt, um im Bildungssystem dranbleiben zu können. Trudelt hier die erste Drei ins Haus, wird schnell Lehrmaterial im höheren zweistelligen Bereich bestellt oder Nachhilfe kommt auf den Plan. Währenddessen erleben Kinder aus nicht akademischen Familien Schule oft noch als eine Welt, die ihnen nicht gehört. Überforderung und Unsicherheit stehen von Tag eins auf der Tagesordnung. Diese Gefühle können Kinder sprachlos machen und zu einer Lernverweigerung führen, denn wer sich selbst sagt, ich schaffe das niemals, schafft es wenigstens, diese Kontrolle zu behalten. Sirkka Jendis, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, zeigt in ihrem Buch „Armut hat System“ eindrücklich, wie soziale Herkunft den Bildungsweg prägt und wie sehr unsere gesellschaftlichen Strukturen diesen Zustand reproduzieren.
Unüberwindbare Hürden
Um das zu verstehen, ist es wichtig, sich mit dem Konstrukt im Hintergrund dieses Systems einmal auseinanderzusetzen: Klassismus bezeichnet die systematische Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft. Im Bildungsbereich zeigt er sich auf vielen Ebenen: in der Erwartungshaltung der Lehrkräfte, in den Fördermöglichkeiten, in der Auswahl der Lerninhalte und oft auch in der Haltung gegenüber Kindern und Eltern. Wer keine Elterngespräche auf Augenhöhe führen kann, weil Sprache, Bildung oder Selbstsicherheit fehlen, gerät schnell ins Abseits. Natürlich gibt es auch motivierte Lehrkräfte und Eltern aus benachteiligten Verhältnissen, die tagtäglich versuchen, Chancen(gleichheit) zu ermöglichen, aber das Gefühl, das dabei mitklingt, als Elternteil versagt zu haben, ist nahezu unerträglich und oft der Grund für sozialen Rückzug. Denn: Viele erscheinen lieber gar nicht, als zu spüren, nicht in das System zu passen und als Eltern nicht gut genug zu sein.
Soziale Verantwortung
Es ist hilfreich, sich der eigenen Privilegien bewusst zu werden. Einfluss hat, wer sich eingesteht, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Hausaufgaben begleitet werden (können), dass das Sozialverhalten maßgeblich vom sozialen Umfeld abhängt, dass das System Schule auch für Erwachsene unüberschaubar sein kann. Vielleicht entsteht durch das Bewusstmachen dieser einfachen Logik auch die Möglichkeit, sich für mehr Gerechtigkeit stark zu machen, für die Förderung von und Forderung nach Unterstützungsangeboten in der Schule, für gelebte Offenheit in der Familie und ehrliche und reflektierte Gespräche über Ungleichheit und die Grenzen „kostenfreier“ Bildung.
Selbst ins Handeln kommen
Sich selbst und die eigenen Denkweisen zu hinterfragen, kann im Kleinen einiges bewirken :
• Welche Bilder habe ich im Kopf, wenn ich an „bildungsfern“, „sozial schwach“ oder „prekär“ denke?
• Mit welchen Privilegien wachsen meine Kinder auf, die nicht für alle selbstverständlich sind?
• Was denke ich über Eltern, die regelmäßig nicht zum Elternabend kommen? Habe ich je versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen?
• Welche Erfolge konnte ich bisher feiern und unter welchen Rahmenbedingungen habe ich sie erreicht? Kann ich etwas davon weitergeben?
• Was bedeutet für mich „gute Bildung“ und ist diese in meinen Augen für alle Kinder zugänglich?
Diese Fragen können den Blick für blinde Flecken und das eigene Denk- und Wertesystem öffnen, genauso wie für die eigenen strukturellen Privilegien und soziale Unterschiede. Wir können anerkennen, dass es mehr als guten Willen braucht, um Teilhabe zu ermöglichen, aber Bewusstsein und guter Wille mehr bewirken können, als wir oft denken. Wer sich das bewusst macht, ändert nicht über Nacht die Welt. Aber vielleicht ändert sich der Blick auf die eigenen Privilegien, auf andere Familien und auf das System, das an alle Kinder, unabhängig von der Ausgangslage, die gleichen Ansprüche stellt.