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Inklusion ist, wenn sie dabei sind

Drei Tage nach der Geburt erfuhren Thorsten Niedecker und seine Frau, dass ihr Sohn ein Extra-Chromosom hat. Mittlerweile besucht Philipp die inklusive Realschule.

Porträt eines Jugendlichen mit Down-Syndrom

Pia Arras-Pretzler

22.02.2024

Lesezeit 6 Minuten

Wie viele Kinder haben Sie? Welches Kind hat das Extra-Chromosom?

Wir haben zwei Kinder, eine 16-jährige Tochter, nach 21 Monaten kam dann Philipp, 14 – er hat das Extra-Chromosom.

Zu welchem Zeitpunkt war klar, dass Ihr Kind Trisomie hat?

Das war an Tag 3 nach der Geburt, bei der Entlassungsuntersuchung. Ich wollte meine Frau und meinen Sohn abholen, die beiden waren in dem Untersuchungsraum und der Arzt ging raus, als ich reinkam. Meine Frau sah mich geschockt an und meinte: Wir haben einen Verdacht auf Down-Syndrom. Ich fand es unmöglich, dass der Arzt uns damit alleingelassen hat. Er kam dann irgendwann wieder mit einem Buch über Down-Syndrom zurück und hat uns zum Herzcheck in die Kardiologie geschickt. Wir hatten Glück, da war alles in Ordnung. Der Kardiologe hat uns dann beruhigt und mit weiteren Infos versorgt.

Wie sind Sie mit der Diagnose umgegangen?

Unser erstes Kind, die Tochter, war eine Risikoschwangerschaft mit Verdacht auf alle möglichen Schrecklichkeiten, das war sehr anstrengend, und wir hatten uns damals gegen eine Fruchtwasseruntersuchung entschieden, weil dabei das Kind ja auch abgehen kann. Ich weiß noch, wir sind nach diesem Gespräch raus auf die Straße und da war eine Familie mit zwei Kindern, eines hatte Trisomie, und die beiden wirkten total glücklich. Da sagten wir uns: Mit welchem Recht verhindern wir, dass wir vielleicht so ein Kind bekommen? Wir können nicht entscheiden, was ein lebenswertes Leben ist. Unsere Tochter kam sechs Wochen zu früh mit einigen Startschwierigkeiten auf die Welt. Wir waren etwa ein halbes Jahr lang regelmäßige Gäste in der Uniklinik und dachten, wir wären mit „Besonderheiten“ durch. Glücklicherweise ist sie jetzt topfit. Die zweite Schwangerschaft mit dem Sohn lief völlig entspannt und normal – und als wir nach der Geburt die Diagnose bekamen, hatten wir die Auseinandersetzung mit dem Thema also eigentlich schon hinter uns. Trotzdem: Wir sind traurig und lost mit Philipp nach Hause gekommen. Heute tut es mir leid, dass wir einen so wenig euphorischen Start mit ihm hatten. Ich wusste ja nicht, was für eine geile Zeit uns mit dem Bengel bevorsteht!

Wie ging es dann weiter?

Wenn man sich nicht selbst um alles kümmert, passiert gar nichts. Wir bekamen zum Beispiel keine Infos von der Stadt oder von der Klinik. Auch das SPZ war nicht wirklich hilfreich. Ganz wichtig fand ich unseren Besuch in der Down-Ambulanz in Velbert im Helios Klinikum Niederberg, da war unser Sohn etwa ein Jahr alt. Dazu kann ich jedem nur raten. Man durchläuft dort mit seinem Kind eine Art Parcours: vom Kinderarzt über den Kieferorthopäden, Physiotherapie, Logotherapie, Ergotherapie, Heilpädagogik und allgemeine Beratung, auch zu rechtlichen Themen. Weder meine Frau noch ich haben Freude daran, ständig anderen Leuten auf die Füße zu treten, aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass völlig selbstverständliche Dinge nicht passieren, wenn man sie nicht einfordert. Unser Sohn hat zum Beispiel in der Grundschule – er hat eine Montessori-Schule besucht – kein Halbjahreszeugnis bekommen. „Er hat das vielleicht gar nicht mitgekriegt“, wurde uns geantwortet. Wir wissen jedenfalls jetzt, warum man uns damals geraten hat, eine Rechtsschutzversicherung abzuschließen.

Da steckt vermutlich oft keine böse Absicht dahinter, nehme ich an, sondern schlicht Ahnungslosigkeit, oder?

Genau. Und eingefahrene Prozesse, Unwissenheit. Eltern mit Trisomie-Kindern müssen ihre eigenen Experten sein –wir haben oft zu hören bekommen, in der Schule zum Beispiel: „Ist ja toll, dass Sie sich so gut auskennen.“ Deshalb ist es wichtig, sich mit anderen Eltern zu vernetzen und Informationen auszutauschen. Der Verein Kleeblatt deckt die erste Zeit mit Trisomie-Kindern super ab. Wenn es später darum geht, in Schule und Beruf einen guten Weg für sein Kind zu bahnen, dann ist der Verein Gemeinsam Leben und Lernen essenziell. Dort geht es allgemein um Inklusion, nicht nur von Down-Kindern. Der Verein setzt sich dafür ein, dass in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention vor allem im Bereich inklusiver Bildung umgesetzt wird. Da gibt es noch unglaublich viel zu tun:  Aktuell gibt es in Düsseldorf den ersten jungen Mann mit Trisomie 21, der ein Berufskolleg besucht! Und das auch nur auf Initiative der Eltern, die aktiv auf die Bezirksregierung zugegangen sind. Ich finde es traurig, dass sich in Düsseldorf erst ein Kolleg für die Inklusion geöffnet hat. Bisher sind die Schüler nach Ratingen oder Mettmann geschickt worden. Das muss man sich mal vorstellen – so ein mieser Schnitt in der Landeshauptstadt!

Ich sage immer wieder: Irgendwann schreibe ich alles auf, was wir als Familie so erlebt haben, und werde Stand-up-Comedian. Das glaubt man nicht, wenn man es nicht erlebt hat: In der Grundschule hat man unseren Sohn ganz selbstverständlich in AGs wie die Salat-AG oder die Entspannungs-AG einsortiert. Ich meinte dann, mein Sohn ist von seiner Disposition her schon sehr entspannt, der braucht Förderung und keine Entspannungs-AG, da würden mir aus dem Stand ein paar andere einfallen, die eher Entspannung brauchen. Und eines seiner ersten Wörter war „Fleisch“, der mag keinen Salat! Eine zusätzliche Fördereinheit wäre schön! In der Grundschule werden durch ein Kind in dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung  4 ½ Stunden eines Sonderpädagogen finanziert. Durch den Lehrermangel werden die Sonderpädagogen jedoch häufig als Klassenlehrer eingesetzt und stehen für ihre eigentliche Aufgabe, der Förderung der Kinder mit Förderbedarf, gar nicht zur Verfügung. Heißt auf Kosten der Kinder mit Förderbedarf wird die Fehlplanung im „normalen“ Schulsystem getarnt. Und dann kommt man uns mit der Salat-AG.
Klingt so, als müsste man sich alles erkämpfen.

Ja, und das kostet Kraft. Meine Frau und ich sind zum Glück ein gutes Team – ich bin Physiotherapeut, meine Frau BWLerin, die klickt sich schnell durch verschiedenste Seiten und kennt sich mit rechtlichen Rahmenbedingungen gut aus.
Wenn man mit seinem Kind ankommt, wird man sofort in eine Schublade gesteckt. Als wir uns Kindergärten angeschaut haben, hieß es, es gibt keine behindertengerechten Toiletten. Die brauchten wir auch nicht! Mein Sohn ist ein bisschen langsamer, aber sonst klappt alles völlig normal. „Wir haben schon ein Kind mit Diabetes“, hieß es dann, damit war der Bedarf an Kindern mit Beeinträchtigung offenbar gedeckt. Wir sind dann in einer Elterninitiative gelandet, die total offen mit unserer Situation umging – und es war super. Unser Sohn hat zum Beispiel gleich vom ersten Tag an einen sehr positiven Einfluss auf den Kita-Chaoten gehabt, und das zog sich eigentlich seine ganze Schullaufbahn durch.

Das heißt, es war weniger Thema, dass die anderen Kinder ihn geärgert oder ausgegrenzt hätten?

Die Sorge, dass ihr Kind eventuell gemobbt werden könnte, haben vermutlich alle Eltern, aber das war bisher kein Thema. Philipp ist ein freundlicher und pfiffiger Kerl und ein guter Sportler. Er schwimmt, er spielt Tennis – sein Trainer meint dazu: Das ist nicht meine stärkste Gruppe, aber die lustigste! –, in Holland gehen wir Wellenreiten, das macht ihm unglaublich Spaß. Er hat ein Sixpack und eine super Haltung, das macht viel aus. Mit einer guten Statik und einer guten Haltung kommt man nicht gleich als Opfer daher. Durchs Tennisspielen kann er auch gut Tischtennis spielen – so was ist wichtig auf dem Schulhof. Letztens beim GLL-Neujahrstreffen in der Halle Mensch sagten zwei Jungs: Der Philipp kommt daher, als ob er Rasierklingen unter den Achseln hätte. Sport ist überhaupt eine zentrale Sache. Also, nicht nur, weil ich Physiotherapeut bin, sondern weil es unglaublich wichtig für das Selbstwertgefühl und eben auch den ersten körperlichen Eindruck ist. Und es ist ja nett, wenn es Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen gibt, aber das ist nicht Inklusion. Inklusion ist, wenn sie dabei sind, in ganz normalen Sportvereinen. Und das geht in vielen Fällen, aber es ist absolut noch Luft nach oben!

In welche Schule geht Philipp jetzt?

In eine inklusive Realschule. Er ist jetzt in der 7. Klasse und wir möchten unbedingt, dass er einen Abschluss macht. Wir haben einen super Inklusionshelfer, der völlig überqualifiziert ist für den Job, aber total darin aufgeht. Inklusionshelfer haben keinen Lehrauftrag, nur einen Betreuungsauftrag – sie leisten Fantastisches! Und weil sie nur so viel Hilfe wie nötig anbieten sollen, kümmert sich unser Inklusionshelfer in der restlichen Zeit um die anderen Kinder in der Klasse – wovon alle profitieren!

Jedenfalls: Ohne Abschluss würde Philipp sehr wahrscheinlich in einer Werkstatt für angepasst Arbeit landen, und dort verdient man nicht mehr als ein Taschengeld. Wir wollen aber, dass er in den ersten Arbeitsmarkt kommt, also ganz normal arbeitet. Mit diesen Behindertenstellen ist es nämlich eine zweischneidige Sache: Das klingt immer so toll und inklusiv, in meinen Augen grenzt es aber oft an Ausbeutung, weil die Leute ganz normale Arbeit machen und dafür eben nicht zumindest den Mindestlohn bekommen, sondern gerade mal ein Taschengeld von ca. 140 Euro pro Monat. Das verstehe ich nicht unter Teilhabe! Somit sind diese Menschen immer abhängig vom Sozialamt. Das ist wieder dieses Schubladendenken. Menschen mit Down-Syndrom sind ja ganz unterschiedlich – das geht von völliger Hilflosigkeit über Hauptschulabschluss bis in ganz seltenen Fällen Uni-Abschluss. Eine ordentliche Ausbildung ist oft durchaus drin – die dauert dann vielleicht länger, aber Verantwortung macht ja auch stolz, und Teilhabe sorgt für Selbstbestätigung.
Die Schubladengeschichte geht sehr früh los: Das Problem ist, je nachdem, wie dein Kind eingestuft wird, darf es Noten bekommen oder nicht. Es gibt den Förderschwerpunkt geistige Behinderung und Förderschwerpunkt Lernen. Die Einstufung erfolgt im Kindergarten, an einem einzigen Tag, durch einen Menschen, den dein Kind noch nie gesehen hat. Theoretisch wird die Einschätzung zwar jährlich überprüft, aber normalerweise ist das eine reine Formsache. Mit dem Förderschwerpunkt geistige Behinderung gibt’s keine Noten und auch keinen Abschluss. Ein Abschluss ist nur beim Förderschwerpunkt Lernen möglich. Der Knackpunkt ist, dass es später sehr schwer ist, den Schwerpunkt geändert zu bekommen. Dafür braucht es wieder viel Kraft und auf dem Weg dorthin die Unterstützung durch Leute, die eben nicht in Schubladen denken und versuchen, Dinge möglich zu machen.

Das klingt so, als hätte es Philipp gut getroffen.

(lacht) Das hören wir immer wieder mal. Ein Freund sagte mal, der Philipp saß auf einer Wolke und hat sich punktgenau euch als Familie ausgesucht. Und es stimmt: Wir sind gut aufgestellt und schaffen es, für ihn Dinge einzufordern. Aber, wie gesagt, das kostet auch Kraft. Es braucht ein gutes Umfeld, man muss einfordern, man muss engagiert auftreten. 
Was hätten Sie damals bei Philipps Geburt denn schon gern gewusst? Hätte es geholfen, wenn Sie sich vorbereiten hätten können?

Na ja, wir hätten uns vorher schon die Startinfos besorgen können, aber andererseits hätten wir uns einfach länger Sorgen gemacht. So hatte meine Frau eine total entspannte Schwangerschaft. Wenn ich gewusst hätte, was für ein pfiffiges, lustiges Kerlchen unser Sohn ist, hätten wir ihn euphorischer begrüßt. So war’s ein holpriger Start.

Wie geht es Ihrem Sohn jetzt?

Wie gesagt, er ist insgesamt gut aufgestellt und gut integriert, sehr sportlich, er und seine Schwester haben ein tolles Verhältnis. Das geht so weit, dass sie oft einen besseren Zugang zu ihm findet, wenn’s mal schnell gehen muss, in der Früh zum Beispiel. Oder wenn er keine Lust auf Hausaufgaben hat. Wir sind eine glückliche Reisegruppe, sag ich immer. Und: Man bekommt so viel zurück. Okay, das sagen alle Eltern, aber wir eben auch. Philipp hat eine hohe praktische Intelligenz. Ich weiß noch, im Kindergarten gab es nur bestimmte Tage, an denen er sein eigenes Spielzeug mitnehmen durfte, und irgendwann im Winter bringe ich ihn hin und denke mir noch: Seine Mütze sitzt irgendwie komisch. Da hatte er einfach seine Playmobil-Männchen unter der Mütze versteckt, um sie so in den Kindergarten zu schmuggeln. Er hat so einen Alltagswitz und einen sehr coolen Spontanhumor. Philipp hat uns beigebracht, Oberflächlichkeiten abzuschaffen. Dafür haben wir keine Zeit, es gibt wichtigere Dinge im Leben. 

Das Gespräch führte Pia Arras-Pretzler.

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